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                                                                        Durchwahl: -180            Berlin, 30.10.2009

                                                                                                                  Az.: 142-1.2

 

Mitteilungen der Rechtsabteilung 16/2009

 

BSG-Urteil zur Versorgung mit einem Trekker - Auswirkungen auf das Mobilitätstraining?

Sehr geehrte Damen und Herren,

das in meinem Rundschreiben RA 10/2009 erwähnte Urteil des Bundessozialgerichts  vom 25.6.2009 - B 3 KR 4/08 R - liegt jetzt im vollen Wortlaut vor. Es enthält über den entschiedenen Einzelfall hinausgehend wichtige Grundsätze zu den Leistungspflichten der gesetzlichen Krankenkassen im Bezug auf die Versorgung mit Hilfsmitteln zur Mobilität. Hier zunächst eine Darstellung des Urteils:

Über den Kläger ist im Urteil zu erfahren, dass er 1964 bereits blind geboren wurde, dass er selbständig als Klavierstimmer arbeitet, dass er im Hinblick auf seine Berufstätigkeit vom Rentenversicherungsträger einen Zuschuss zur Beschaffung eines Kraftfahrzeugs erhalten hat, das wiederum von einem vom Integrationsamt finanzierten Fahrer gelenkt wird, und dass er von der beklagten Krankenkasse unter anderem auch schon mit einem Blindenführhund und einem Blindenlangstock versorgt worden ist. Mit der Klage beansprucht er zusätzlich die Ausstattung mit einem "Trekker Leitsystem für Blinde und Sehbehinderte (GPS System)". Er will damit "seine Ziele im Zusammenspiel von Hund, Stock und GPS-System einfacher und problemloser finden können." Das SG Neubrandenburg lehnte die Klage ab, ebenso das LSG Mecklenburg-Vorpommern. Die Revision des Klägers wurde vom BSG zurückgewiesen.  

Die vom BSG vorgetragenen Urteilsgründe beginnen mit einem Paukenschlag: Sowohl der beklagten Krankenkasse als auch den beiden Vorinstanzen wirft das BSG vor, sie hätten gemäß § 14 SGB IX eine umfassende Prüfung aller in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen vornehmen müssen, also neben der medizinischen Rehabilitation auch die berufliche und die gesellschaftliche Teilhabe. Das BSG beginnt sodann mit der Prüfung der medizinischen Rehabilitation. Dazu stellt es fest:

Der Anspruch gegen die Krankenkasse hängt nicht davon ab, ob das Hilfsmittel im GKV-Hilfsmittelverzeichnis genannt ist. Das galt früher schon so und gilt erst recht seit dem 1.4.2007 aufgrund der in den  §§ 128 und 139 SGB V vorgenommenen Klarstellungen.

Das "GPS-System für blinde und sehbehinderte Menschen ist weder ganz noch teilweise als Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens aus der Hilfsmittelversorgung ausgeschlossen." Betrachten wir zunächst das "im Streit stehende GPS-System" als Ganzes: Es unterscheidet sich - unter anderem durch die Braillezeile und durch die Hinweise auf nahe gelegene Einkaufsmöglichkeiten -deutlich von den handelsüblichen Geräten zur Orientierung nicht behinderter Menschen. Betrachten wir es nun unter dem Aspekt einer eventuellen Doppelfunktion (= zugleich Hilfsmittel und Gebrauchsgegenstand): Diese Doppelfunktion wird verneint, denn die Nutzung eines GPS-Systems durch einen Fußgänger - "sollte sie derzeit überhaupt nennenswert sein - erfüllt allenfalls gehobene Komfortansprüche". Und stellen wir zum Schluss die Frage, ob einzelne Komponenten als Gebrauchsgegenstände anzusehen sind. Dann müssten sie selbstständig nutzbar sein. Dies ist, stellt das BSG fest, beim Lautsprecher und bei der Software eindeutig nicht der Fall. In Erwägung zu ziehen, so das BSG, wäre allenfalls die Nutzung des Personal Digital Assistant, aber dazu sei hier von der Krankenkasse nichts vorgetragen worden. Der "Trekker" war somit als Hilfsmittel und als nichts anderes einzustufen. 

Es folgen die wesentlichen Entscheidungsgründe für die Ablehnung des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs. Sie sind nachfolgend wörtlich, aber gekürzt und ohne die Hinweise auf andere Gerichtsentscheidungen wiedergegeben (der volle Wortlaut ist der beiliegenden Datei zu entnehmen.): 

"Für den Ausgleich von Folgen krankheitsbedingter Mobilitätseinschränkungen haben die Krankenkassen im Gefüge der verschiedenen Sozialleistungsträger nur einzustehen, soweit die Bewegung im Nahbereich der Wohnung eines Versicherten betroffen ist und das beanspruchte Hilfsmittel hierfür einen besonderen Gebrauchsvorteil bietet. (...) Ihre Aufgabe ist allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. (...) Demgemäß ist ein Hilfsmittel (...) nur "erforderlich" iS von § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Räumlich bezieht sich dies im Bereich der Mobilität auf den Bewegungsradius, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Dazu ist der Versicherte nach Möglichkeit zu befähigen, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegende Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind. Ausnahmen hat der Senat nur bei besonderen zusätzlichen Merkmalen gemacht - etwa im Hinblick an die besonderen Entwicklungsanforderungen von Kindern und Jugendlichen. (...) Dem Gegenstand nach besteht für den so definierten räumlichen Bewegungsradius Anspruch auf die im Einzelfall für den gebotenen Behinderungsausgleich ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, nicht jedoch auf eine Optimalversorgung. (...) Das beurteilt sich bei Mobilitätseinschränkungen infolge von Blindheit oder Sehbehinderung nicht anders als bei Beeinträchtigungen des Bewegungsapparats; in beiden Fällen erstreckt sich die Ausgleichsverpflichtung der Krankenkasse unabhängig von dem Grund der Beeinträchtigung räumlich nur auf den Bewegungsradius, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht, und dem Gegenstand nach auf diejenigen Mittel, die für diesen Nachteilsausgleich funktionell erforderlich sind. Hiervon ausgehend besteht Anspruch auf Versorgung mit einem GPS-System für blinde und sehbehinderte Menschen durch die GKV, wenn sich der Versicherte nach den Umständen des Einzelfalls ohne diese Unterstützung im Nahbereich um die eigene Wohnung nicht zumutbar orientieren kann und das GPS-System deshalb einen wesentlichen Gebrauchsvorteil im dargelegten Sinne bietet. Das ist nicht der Fall, wenn dem Versicherten Orientierung im Umfeld um die Wohnung trotz Blindheit oder Sehbehinderung aus eigenem Vermögen oder mit anderen Hilfsmitteln - insbesondere einem Blindenführhund - vertraut ist und Orientierungsdefizite insoweit nicht bestehen. Anders kann es dagegen etwa liegen, wenn umzugsbedingt die Orientierung in fremder Umgebung notwendig ist; in diesem Fall kann auch die leihweise Überlassung des GPS-Systems auf Zeit in Betracht zu ziehen sein. Ebenso kann ein wesentlicher Gebrauchsvorteil vorliegen, wenn der Verlust des Sehvermögens erst im späten Alter eintritt und deshalb keine Übung im Umgang mit der Sehbehinderung besteht oder eine frühere Vertrautheit mit der Orientierung im Wohnumfeld alters- oder krankheitsbedingt nachgelassen hat. Entscheidend ist jeweils, ob der Versicherte zumutbar auf die Orientierung mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten der Wahrnehmung und ggf anderen Hilfsmitteln zu verweisen ist oder ob die Orientierung im Nahbereich um die Wohnung für die im Alltag üblichen Wege mit einem GPS-System für Blinde und sehbehinderte Menschen wesentlich verbessert werden kann. (... Nach den Feststellungen des LSG...) ... ist der Kläger mit Blindenstock und Blindenführhund versorgt und kann sich im Nahbereich um seine Wohnung herum so orientieren, dass er alle im Alltagsleben für ihn notwendigen Stellen und Geschäfte erreichen kann. Dass mit dem beanspruchten GPS-System weitere Adressen im Nahbereich erstmals zugänglich würden oder die Orientierung in einem sehr erheblichen Maße erleichtert würde, kann den Feststellungen hingegen nicht entnommen werden. Darauf hat sich der Kläger auch selbst nicht berufen."    

Es folgt die bisher unterbliebene, nach Ansicht des BSG aber nach § 14 SGB IX vorzunehmende Prüfung der anderen Rechtsgrundlagen für eine Teilhabeleistung. Auch hierzu die wesentlichen Sätze des Urteils:

"Es besteht kein weiterer Anspruch zur Teilhabe am Arbeitsleben, weil durch die Blindheit bedingte Orientierungsmängel des Klägers eigener Auskunft nach auf beruflichem Gebiet von der Arbeitsassistenz ausreichend ausgeglichen sind und er sich von einem für seine Zwecke ausgestatteten GPS-System insoweit keinen weiteren Nachteilsausgleich erwartet. Anspruch auf Versorgung mit einem GPS-System zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft besteht ebenfalls nicht, weil ein Ausgleichsbedürftiger und -fähiger Mangel (vgl. § 9 Abs. 1 Eingliederungshilfe-VO) weder festgestellt noch ausreichend konkret benannt worden ist. Offenbleiben kann deshalb, ob auch in Bezug auf ein solches Hilfsmittel und nach dem Regime der §§ 53 Abs. 1, 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII iVm § 55 Abs. 1 und Abs. 2 Nr.1 SGB IX ein anzuerkennender Bedarf nur vorliegt, wenn dafür eine ständige Benutzungsnotwendigkeit besteht, wie das Bundesverwaltungsgericht auf der Grundlage von § 47 Bundessozialhilfegesetz für die Hilfe zur Beschaffung eines Kraftfahrzeugs (...) entschieden hat."

 

Kommentar:

 

1.Selten habe ich ein Urteil mit so vielen bemerkenswerten Aussagen gelesen:

 

1.1. Stellt ein Behinderter einen Antrag auf eine der im SGB IX beschriebenen Leistungen zur Teilhabe - und dazu gehört auch der Antrag bei der Krankenkasse auf Versorgung mit einem Hilfsmittel - so ist, wenn der Antrag nicht innerhalb von zwei Wochen nach Antragseingang an eine andere Stelle weitergeleitet wird, der Anspruch nach allen Seiten (medizinische Rehabilitation, Teilhabe am Arbeitsleben, Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft) zu prüfen. Das bedeutet nach meiner Einschätzung: Mit der durch § 14 SGB IX bezweckten Beschleunigung des Verfahrens wird Ernst gemacht. Einige Krankenkassen werden dann aber möglicherweise noch schneller die Flucht ergreifen und den Antrag wegen angeblicher Unzuständigkeit weiterleiten. Es kann auch sein, dass die Antragsteller künftig mehr Fragen gestellt bekommen.   

 

1.2. Die Sozialgerichte haben gemäß § 103 SGG den Sachverhalt von Amts wegen  zu erforschen und sind an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Diesem Auftrag setzt das BSG im vorliegenden Urteil nun eine Grenze: Wenn es um die Frage geht, ob Komponenten eines Hilfsmittels als Gebrauchsgegenstände zu bewerten sind, gibt es für die Krankenkassen so etwas wie eine Darlegungs- und Beweispflicht. Das BSG leitet diese Pflicht her aus dem zweiten Halbsatz in § 103 Satz 1 SGG, wonach die Beteiligten zur Erforschung des Sachverhalts heranzuziehen sind.   

 

1.3. Der "Trekker" kann ein im Sinne des § 33 SGB V "notwendiges" Hilfsmittel sein. Er ist aber nur in bestimmten Einzelfällen, die vom BSG sehr eng beschrieben werden, von der Krankenkasse zu gewähren. Die vom SG Heilbronn im Urteil vom 30.8.2007 - S 2 KR 2353/05 - getroffene Entscheidung kann danach wohl kaum als Maßstab herangezogen werden. Es wäre aber logisch, wenn der GKV-Spitzenverband das Hilfsmittel in das Hilfsmittelverzeichnis aufnehmen würde. 

 

1.4. Bei der Prüfung dieser "Notwendigkeit" kommt es auf die Befriedigung von Grundbedürfnissen und daraus folgend auf einen "besonderen Gebrauchsvorteil" des Hilfsmittels an, der sich auf einen Bewegungsbedarf innerhalb eines abgegrenzten konkreten örtlich bestimmten Raumes bezieht und der für bestimmte Ziele (Luft schnappen und Alltagsgeschäfte) von Bedeutung ist. Dieser konkrete Ortsbezug macht es andererseits notwendig, gegebenenfalls auch den durch einen  Wohnungswechsel bedingten Mobilitätsbedarf zu berücksichtigen.

 

1.5. Der relevante Bewegungsbedarf ist unabhängig davon zu bestimmen, ob sich die Einschränkungen aus Blindheit oder Sehbehinderung oder aus Beeinträchtigungen des Bewegungsapparats ergeben. Er kann - der logische Schluss liegt nahe - dann auch nicht abhängig davon bewertet werden, um welches Hilfsmittel es sich handelt oder ob es um die Zurverfügungstellung des Hilfsmittels oder um die Schulung im Gebrauch desselben geht. Das vorliegende Urteil setzt also auch Maßstäbe für die Frage der "Notwendigkeit" einer Mobilitätsschulung mit dem Langstock.

 

1.6. Besonderheiten gelten jedoch für Kinder und Jugendliche, bei denen die Mobilitätsanforderungen im Hinblick auf die körperliche und schulische Entwicklung zu bewerten sind.

 

1.7. Wie groß ist der Bewegungsbedarf? Das BSG spricht einerseits von dem "Bewegungsradius, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht", andererseits von der Fähigkeit, "sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang an die frische Luft zu kommen oder um üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegende Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind." In welchem Verhältnis stehen diese beiden Aussagen zueinander? Die erste Aussage ist als räumliche Grenze, die zweite als funktionale Grenze zu verstehen.

 

1.7.1. Zunächst zur räumlichen Grenze: Der Begriff der "Wegstrecken, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden" ist im Sozialrecht nicht neu. Er war und ist von Bedeutung im Zusammenhang mit der Vergabe des Merkzeichens G im Schwerbehindertenausweis. In den früheren AHP Nr. 30 hieß es dazu: "Nach der Rechtsprechung gilt als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne eine Strecke von etwa 2 Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird." (In Teil D Nr. 1 der neuen versorgungsmedizinischen Grundsätze hat man lediglich die Wörter "nach der Rechtsprechung" gestrichen, denn darauf braucht sich eine Verordnung nicht zu berufen.) Der Radius ergibt damit im günstigsten Fall einen Kreis mit 4 Kilometern Durchmesser (es wird nicht verlangt, dass die Wegstrecke an den Ausgangspunkt zurückführen muss).

 

1.7.2. Sodann zur funktionalen Grenze: Der Gang darf als kurzer Spaziergang dem Luftschnappen dienen, im Übrigen aber müssen Stellen (bis in 2 km Entfernung und in einer halben Stunde) erreicht werden, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind.

 

1.7.3. Welches Gewicht kommt den beiden genannten Grenzen zu? Dem Urteil ist zu entnehmen, dass es dem BSG auf eine Bewertung der konkreten individuellen Verhältnisse und nicht auf eine abstrakte Bewertung ankommt. Die individuelle Bewertung entscheidet darüber, ob die Leistung gewährt wird, aber auch darüber, in welchem Maße. Denn es heißt: "Die Krankenkassen ... haben einzustehen, soweit...". Ist im Einzelfall unklar, wo die Grenzen gezogen werden sollen, so hängt die Klärung davon ab, was die Auslegung der bei der Anwendung des § 33 SGB V verwendeten Begriffe "Notwendigkeit" und "Grundbedürfnis" ergibt.


2. Kritik:

 

2.1. Die Unklarheiten beginnen schon bei der Frage, was eigentlich mit der  "Wohnung" gemeint ist, die den Mittelpunkt des Kreises festlegt. Muss es der feste, angemeldete Wohnsitz sein, oder der "gewöhnliche Aufenthalt" oder ein sonstiger "Aufenthalt", der "relevant" ist für die Bewertung, welchen Gebrauchsvorteil der Versicherte vom Hilfsmittel hat? Ist das während des Urlaubs im Hotel oder das in einer Rehabilitationseinrichtung bezogene Zimmer eine "Wohnung"? Kann jemand gleichzeitig  mehrere Wohnungen haben, wenn er zwischen diesen hin- und herpendelt?  Macht es überhaupt Sinn, das "Grundbedürfnis" an Mobilität an den Ort zu binden, wo ich wohne? Mobilität heißt doch schon an sich, Orte zu wechseln.

Die vom BSG vorgenommen räumliche Grenzziehung ist meines Erachtens allenfalls sinnvoll als Begrenzung der Fußgänge auf das übliche, tägliche Maß. Große Wanderungen werden ausgeschlossen, was auch nachvollziehbar ist. Das Erfordernis eines strengen Ortsbezuges erscheint mir hingegen fragwürdig. Bei der Mobilitätsschulung mit dem Langstock würde dieser strenge Ortsbezug auch zu kuriosen Ergebnissen führen: Würde die Schulung auf das Antrainieren bestimmter Wege zu bestimmten ausgesuchten Geschäften und auf einen Promenadenweg zum Luftschnappen beschränkt, dann - das wäre die Konsequenz - müsste aus Sicherheitsgründen ein Verbot ausgesprochen werden, andere Wege zu gehen. Der Betreffende müsste verpflichtet werden, stehen zu bleiben, wenn er sich verlaufen hat. Und müsste der Großstadtbewohner, der alle Geschäfte nur mit der U-Bahn erreichen kann, von vorneherein zu Hause bleiben, weil er die 2km-Grenze überschreitet? Eine solche Mauer zu errichten, kann das BSG doch nicht verlangen!

 

2.2. Unklar ist ferner, was man zu den "Alltagsgeschäften" zählen darf. Bestimmen sie qualitativ oder quantitativ den "besonderen Gebrauchsvorteil" des Hilfsmittels? Nun, auch hier geht es zentral um den Begriff des "Grundbedürfnisses". Beschränken sich daher die "Alltagsgeschäfte" auf den Erwerb von Lebensmitteln, von Medikamenten und von Materialien für die Haushaltsführung? Oder gehören noch die wichtigen Behördengänge, die Arztbesuche dazu? Oder auch der Besuch einer Bibliothek, eines Kinos oder Theaters, eines Fußballstadions, einer geselligen Veranstaltung beim Blindenverein, eines Gottesdienstes, eines Restaurants? Geht der Fußweg zu einem "Alltagsgeschäft", wenn man einen Taxistand aufsucht und in das Taxi steigt, oder wenn man zum Bahnhof geht, um dort eine Fahrkarte zu lösen? Rechtlich ist auch das Betreten eines Zuges oder einer U-Bahn ein "Geschäft", und es kann von alltäglicher Bedeutung sein. Ist es dann entscheidend, wohin man fährt, wie oft und wozu? Bedenken wir: Nach den Worten des BSG gehört es zu den Zielen der GKV-Hilfsmittelversorgung, "ein selbstständiges Leben führen zu können und die Anforderungen des Alltags meistern zu können."  Dazu gehört jedenfalls mehr als ein Spaziergang an die Luft und der Gang zum Bäcker.

 

2.3. Es scheint, dass sich hier zwei verschiedene Welten auftun: Zum einen das vorliegende Urteil, mit dem - im Ergebnis durchaus nachvollziehbar - die Versorgung mit einem zusätzlichen Trekker abgelehnt wird. Zum anderen die Vorstellung, dass die Mobilitätsschulung mit dem Langstock auf ein unbegreifliches Minimum schmelzen könnte, das der Bedeutung des Hilfsmittels, das seit langem in der GKV-Hilfsmittelversorgung fest verankert ist, und seinem elementaren Nutzen für den Blinden nicht gerecht wird. Nein, das Urteil zum Trekker kann und darf hier die Uhren nicht zurückdrehen. Es geht, wie gesagt, im Kern um die Auslegung des Begriffes  "Grundbedürfnis". Und die bei dieser Auslegung vorzunehmende Wertung darf nicht ohne Berücksichtigung der UN-Behindertenrechtskonvention erfolgen. Dort heißt es in Art. 20: "Die Vertragsstaaten treffen wirksame Maßnahmen, um für Menschen mit Behinderungen persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit sicherzustellen, indem sie (...) c) Menschen mit Behinderungen (...) Schulungen in Mobilitätsfertigkeiten anbieten.") Und gemäß Art. 1 ist es Zweck auch dieser Norm, den Genuss von Menschenrechten zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten.    

 

2.4. Wäre eine "Sonderbehandlung" der Mobilitätsschulung denn gerechtfertigt? Grundsätzlich sind die Bereitstellung eines Hilfsmittels und die Schulung in dessen Gebrauch nicht unterschiedlich zu bewerten (s.o. 1.5). Hier aber, beim Langstock,  handelt es sich von vornherein um ein atypisches Hilfsmittel: Seine Funktion wird nur zu einem kleinen Anteil vom Gegenstand, überwiegend aber von den für die Nutzung zu erwerbenden Fähigkeiten bestimmt. Das heißt: Gewichtiger als der Erwerb des Gegenstandes ist die Schulung. Von Gewicht ist dabei aber auch, was in dieser Schulung - und zwar schon bei der Vermittlung grundlegender Techniken - vom Versicherten abverlangt wird. Allein schon dieser Einsatz sollte es angemessen und gerechtfertigt erscheinen lassen, im Hinblick auf eine weitere Schulung nicht früher als notwendig auf die Bremse zu treten. Nun ist gewiß auch beim Erwerb von Mobilitätsfähigkeiten zu berücksichtigen, dass die Krankenkassen "im Gefüge der verschiedenen Sozialleistungsträger" für die Leistung nur dann einzustehen haben, soweit sie im Rahmen der medizinischen Rehabilitation "notwendig" ist, und dass es um die Befriedigung von "Grundbedürfnissen" geht. Das macht Einschränkungen gegenüber den Verpflichtungen anderer Leistungsträger nötig. Solche Einschränkungen waren bereits Gegenstand der Gespräche des DBSV mit dem IKK-Bundesverband und sind in die ausgehandelten (aber nach wie vor in der Schublade liegenden) Erläuterungen zur Leistungsbeschreibung der Mobilitätsschulung eingeflossen. Diese Erläuterungen brauchen meines Erachtens nicht geändert zu werden.

 

2.5. Bei der hier vorgetragenen Kritik und der rechtlichen Bewertung handelt es sich um meine persönliche Sicht. Sie sollte nicht dazu verführen, zu glauben, dass die Krankenkassen und die Gerichte dieselbe Position einnehmen müssen. Es werden vielmehr noch harte Diskussionen auf uns zukommen. Diese Diskussionen sollten  nicht noch zusätzlich erschwert werden - zum Beispiel durch eine Antragswelle im Bezug auf umzugsbedingten Mobilitätsbedarf. Hier wäre Zurückhaltung vernünftiger.   

 

Mit freundlichen Grüßen

 

gez. Thomas Drerup
Rechtsreferent