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                                                                                                                  Az.: 142-1.2

 

Mitteilungen der Rechtsabteilung 13/2009

 

Hilfsmittelversorgung: BSG-Urteil zu den Pflichten der Sozialhilfe
 

Sehr geehrte Damen und Herren,

zu berichten ist über eine Entscheidung des Bundessozialgerichts, die wichtige Aussagen über das Verhältnis der Leistungen der Sozialhilfe zu denen der gesetzlichen Krankenkassen enthält (BSG Urt. vom 19.5.2009 - B 8 SO 32/07). Praktisch dürfte dies auf eine Ausweitung der Leistungspflichten der Sozialhilfe hinauslaufen: Sozialhilfeempfänger zum Beispiel, die eine Brille mit starken Gläsern brauchen, diese aber von der Krankenkasse nicht gewährt bekommen, können sich Hoffnungen machen, sie von der Sozialhilfe bezahlt zu bekommen.

In dem vom BSG zu entscheidenden Streitfall ging es darum, dass eine Rentnerin die von ihr benötigten Hörgerätebatterien von der Sozialhilfe bezahlt haben wollte. Das Hörgerät hatte sie von ihrer Krankenkasse gewährt bekommen. Zwar gehören zu dieser Krankenkassenleistung grundsätzlich auch die Kosten der Energieversorgung (so wie zur Versorgung mit einem Blindenführhund auch die Übernahme der Futterkosten gehört), jedoch sind bei Erwachsenen die Kosten der Hörgerätebatterien nicht zu übernehmen, und zwar aufgrund § 2 der nach § 34 SGB V erlassenen Verordnung (= Ausschluss von sächlichen Mitteln von geringem Abgabepreis). Als die Rentnerin nunmehr bei der Sozialhilfe die Kostenübernahme  beantragte, berief sich die Behörde auf § 54 Abs. 1 Satz 2 SGB XII, wonach die (Sozialhilfe-)Leistungen zur medizinischen Rehabilitation den Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entsprechen und somit nicht über deren Umfang hinausgehen. Aus demselben Grunde wurde dann auch die  Klage der Rentnerin sowohl vom Sozialgericht als auch vom Landessozialgericht abgewiesen. Das BSG aber hob die Urteile wieder auf.

In seiner Begründung folgte das BSG allerdings nicht der Argumentation des Anwalts der Klägerin. Dieser hatte gemeint, § 31 SGB IX (!), der die Hilfsmittelversorgung von Behinderten im Rahmen der medizinischen Rehabilitation (siehe § 26 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX) beschreibt, sei - aus geschichtlichen Gründen - weiter auszulegen als die Hilfsmittelregelungen des Krankenkassenrechts und diese - weitergehenden - Leistungen würden sinngemäß von § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII mit erfasst. Das BSG ging auf diese Argumentation mit keinem Wort ein, die Gründe liegen aber auf der Hand: Es gilt der folgende Satz (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGB XII) mit der schon zitierten Regelung, dass die (Sozialhilfe-)Leistungen zur medizinischen Rehabilitation auf den Leistungsrahmen der gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt sind. 

Die Lösung, die das BSG fand, war diese: Die Kostenübernahme für die Hörgerätebatterien - eine Geldleistung und keine Sachleistung! - kann hier nach § 54 Abs.1 Satz 1 SGB XII in Verbindung mit § 55 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 7 SGB IX erfolgen und ist dann keine "Leistung zur medizinischen Rehabilitation", sondern eine Leistung der Eingliederungshilfe. Das BSG jedenfalls war der Ansicht, dass hier die meisten Voraussetzungen für einen entsprechenden Eingliederungshilfe-Anspruch erfüllt waren und verwies den Streitfall zur weiteren Klärung zurück an die Vorinstanz. Welche Voraussetzungen waren das? Und welche Fragen waren zu prüfen?

Der Anspruch auf Eingliederungshilfe setzt voraus, - kurz gesagt - dass jemand durch körperliche Gebrechen wesentlich in der Teilhabefähigkeit eingeschränkt ist (vgl.  § 53 SGB XII und § 1 Eingliederungshilfe-Verordnung). Ist jemand, der ein Hörgerät braucht, in der Teilhabefähigkeit wesentlich eingeschränkt? Ja, aber nur dann, wenn er sich ohne das Gerät nicht verständigen kann. § 1 Satz 1 Nr. 6  Eingliederungshilfe-Verordnung spricht sogar ausdrücklich von "Personen, die gehörlos sind oder denen eine sprachliche Verständigung über das Gehör nur mit Hörhilfen möglich ist." Bemerkenswert finde ich, dass hier die Wesentlichkeit der Behinderung an der Hörfähigkeit ohne Hörhilfe bewertet wird, während im Krankenkassenrecht (in § 33 Abs. 2 Satz 2 SGB V) der Schweregrad der Sehbeeinträchtigung am Sehvermögen mit Korrektur (mit Augengläser) gemessen wird. Ist diese Ungleichbehandlung verfassungswidrig oder diskriminierend? Nun, die Regelung in § 33 SGB V kann man als "verunglückt" bezeichnen. Ein Verfassungsverstoß oder eine Diskriminierung ergibt sich daraus aber noch nicht. Denn vergleichen lassen sich die Hörgeräte- und die Brillenträger allenfalls im Hinblick auf die für sie gemeinsam geltenden Regelungen zur Eingliederungshilfe, nicht aber im Hinblick auf unterschiedliche Regelungsbereiche. Das heißt aber andererseits: Wer ohne Brille wesentlich in der Teilhabefähigkeit beschränkt ist, ist genauso zur Eingliederungshilfe berechtigt wie einer, der ohne Hörgerät gleich stark beschränkt ist. Er hat also grundsätzlich einen sozialhilferechtlichen Anspruch auf Versorgung mit einer Brille.

Im BSG-Urteil heißt es wörtlich: "Wesentlicher Bestandteil der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist die Kommunikation, für die Hören essentielle Voraussetzung ist. Das Hörgerät dient deshalb nicht ausschließlich der medizinischen Rehabilitation oder der Teilhabe am Arbeitsleben; sein Zweck und die mit einem Hörgerät verfolgten Ziele gehen weit darüber hinaus, weil es in allen Teilbereichen des täglichen Lebens seinen Einsatz findet, nicht allein eine Behinderung bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens ausgleicht, sondern als Hilfe gegen die Auswirkungen der Behinderung im Alltag eine uneingeschränkte Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben sichert und hierdurch erst den umfassenden Zugang zur Gesellschaft ermöglicht." Dies hätte man auch so sagen können: Der Leistungsrahmen bei der Hilfsmittelversorgung ist in der Sozialhilfe größer als im Krankenkassenrecht. Aber damit wäre noch nicht das zum Ausdruck gebracht, worauf es dem BSG ankommt: In der Sozialhilfe, so möchte ich es beschreiben, trägt die Hilfsmittelversorgung gewissermaßen ein anderes Mäntelchen.

Zurück zum Anspruch - auf ein Hörgerät (auf eine Brille) bzw. auf Hörgerätebatterien (oder auf ein Brillengestell). Ist das nicht problematisch, wenn das Hörgerät von der Krankenkasse gewährt wird, die Batterien aber von der Sozialhilfe bezahlt werden sollen? Dem BSG stellt sich diese Frage insofern nicht, als es die Bezahlung der Hörgerätebatterien als eigene Hilfsmittel-Leistung betrachtet. Was das BSG hingegen nicht duldet, wäre eine Teilung der Batteriekosten zwischen Krankenkasse (Anteil für den Basisbedarf, der dann unbezahlt bleibt?) und Sozialhilfe (Anteil für den Teilhabebedarf): "Insbesondere ist die Leistung aber nicht in der Weise teilbar, dass ggf nur ein Teil der Kosten für die Hörgerätebatterien im Rahmen der sozialen Rehabilitation zur erstatten wäre. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Aufgaben der Hilfsmittel in der Gesetzlichen Krankenversicherung bzw der medizinischen Rehabilitation und der sozialen Rehabilitation überschneiden, die soziale Rehabilitation nach oben Gesagtem aber über die medizinische Rehabilitation hinausgehen kann. Leistungen der sozialen Rehabilitation sind dann nicht identisch mit Leistungen der medizinischen Rehabilitation und können auch nur als Ganzes, als unteilbare Leistung erbracht werden."

Zwischenergebnis: Die Sozialhilfe muss also, wenn der Anspruch berechtigt ist, die  gesamten Batteriekosten übernehmen. Aber ist der Anspruch berechtigt? Was könnte ihm entgegenstehen? Das BSG prüft:

§ 55 Abs. 1 letzter Halbsatz SGB IX (= Anspruch nur, wenn die Leistung nicht nach den Kapiteln 4 bis 6 des SGB IX erbracht wird): Das BSG stellt klar, dass es bei dieser Regelung nicht darum geht, ob nach den Kapiteln 4 bis 6 "dem Grunde nach ein Anspruch besteht", sondern darum, ob die Leistung tatsächlich "erbracht" wird. Da die Krankenkasse die Batterien nicht bezahlt, war dieser Punkt abzuhaken.

Eventuelle Vorrangigkeit eines Anspruchs nach § 54 Abs. 1 SGB XII iVm § 26 SGB IX (= Vorrangigkeit einer "dem Grunde nach" von der Sozialhilfe zu erbringenden Leistung zur medizinischen Rehabilitation?): Das BSG hält es für "bereits fraglich, ob die Hörgeräte- und Hörgerätebatterieversorgung überhaupt medizinische Rehabilitation ist." Und warum? Weil - wie ich es oben ausgedrückt habe - im vorliegenden Fall der hier geprüfte Hilfsmittelanspruch ein anderes Mäntelchen trägt. Für das BSG ist aber entscheidend, dass "medizinische Rehabilitation" in § 54 SGB XII identisch ist mit dem, was man im Krankenversicherungsrecht darunter versteht, und nicht darüber hinausgeht. Hier aber geht es um eine andere Leistung. 

Eventuelle Nachrangigkeit der Sozialhilfe auf Grund § 264 Abs. 2 SGB V (= Übernahme der Krankenbehandlung durch die GKV bei Sozialhilfeempfängern und Kostenerstattung durch die Sozialhilfe): Das BSG meint, dass der Anspruch auf medizinische Rehabilitation nach § 54 Abs. 1 SGB V iVm § 26 SGB IX sowieso nur dann zum Zuge kommt, wenn die Vorleistungspflicht nach § 264 Abs. 2 SGB V nicht greift. Umgekehrt bedeutet das: Wenn schon § 26 SGB IX nicht greift, dann kann  auch § 264 SGB V sich auf eine Leistungspflicht im Rahmen der Eingliederungshilfe nicht auswirken.

 

Fazit: Dem Anspruch auf Bezahlung der Hörgerätebatterien steht also nichts entgegen. Und dieses Ergebnis entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers, der mit dem SGB XII das Existenzminimum sichern will (was nach Meinung des BSG nicht Aufgabe des SGB V ist - meines Erachtens aber im SGB V berücksichtigt werden sollte), und entspricht auch schon der bisherigen Rechtsprechung (das BSG verweist auf ein eigenes Urteil aus 1994 und auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus 2003).

Warum aber hat das BSG den vorliegenden Fall an die Vorinstanz zurückverwiesen?

Weil bei der Eingliederungshilfe die Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu prüfen sind. Denn da es sich bei der Bezahlung der Hörgerätebatterien eben nicht um eine "Leistung zur medizinischen Rehabilitation" handelt, gilt auch nicht die Sonderregelung des § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 SGB XII (Einschränkung der Anrechnung von Einkommen und Vermögen bei Leistungen der medizinischen Rehabilitation). Aber das ist noch nicht alles: Selbst wenn die Einkommensgrenze unterschritten wird, müsste die Vorinstanz noch prüfen, ob die Kosten der Batterien, wenn sie geringfügig sind, nicht doch der Rentnerin nach § 88 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII zuzumuten sind. Am Ende steht die Rentnerin möglicherweise wieder genau da, wo sie 4 Jahre vorher losmarschiert ist. 

Welche Folgen ergeben sich aus dem BSG-Urteil für Blinde und Sehbehinderte? Bisher galt schon: Können Hilfsmittel von der Krankenkasse nicht gewährt werden, weil sie der sozialen Rehabilitation zuzuordnen sind, so besteht die Möglichkeit einer entsprechenden Geldleistung im Rahmen der Eingliederungshilfe. Dasselbe gilt für Hilfsmittel, die komplett als "Gebrauchsgegenstand" zu qualifizieren sind und deshalb von der Krankenkasse nicht gewährt werden. Unklar erscheint mir hingegen, wie bei Geräten zu entscheiden sein wird, die eine Doppelfunktion als medizinisches Hilfsmittel und als Gebrauchsgegenstand haben und bei denen die Krankenkasse hinsichtlich der anteiligen Funktion des Gebrauchsgegenstands eine Eigenleistung des Versicherten erwartet. Wie wirken sich hier die oben zitierten Sätze des BSG zur "Unteilbarkeit" der Leistung aus? Die Frage müsste noch geprüft werden. 

Neu ist, wie schon gesagt, dass erwachsene Sozialhilfeempfänger, die eine Brille mit starken Gläsern brauchen, die Kosten hierfür als Eingliederungshilfe beantragen können. Wie stark müssen dann die Gläser sein? Für logisch würde ich es halten, die Abgrenzung im Hinblick darauf vorzunehmen, dass sowohl beim Zugang zur Eingliederungshilfe nach § 1 Nr. 4 Eingliederungshilfeverordnung als auch bei der Ausnahmeregelung nach § 33 Abs. 2 Satz 2 SGB V der mit Korrektur gemessene Sehschärfenwert von 0,3 den maßgeblichen Anhaltspunkt liefert; in diesem Zusammenhang nun müsste man von demselben Wert, aber diesmal ohne Korrektur gemessen, ausgehen.

Bei der Beschäftigung mit dem vorliegenden BSG-Urteil wurde mir schließlich auch noch klar, dass der von Christiane Möller in der "Gegenwart" (10/2009) beschriebene Trick nicht funktionieren kann: Danach sollen privat krankenversicherte Personen sich die ihnen von der PKV vorenthaltenen, aber zum GKV-Leistungskatalog gehörenden Blindenhilfsmittel von der Sozialhilfe bezahlen lassen können, und zwar gemäß (der zuletzt zitierten Nr. in) § 92 SGB V unabhängig von ihrem Einkommen und Vermögen. Stellen wir uns vor, es handelt sich bei der betreffenden Person um einen Sozialhilfeempfänger. Verlangt er das Hilfsmittel als Leistung zur medizinischen Rehabilitation, so könnte das Sozialamt ihn gemäß § 264 Abs.3 SGB V auffordern, eine gesetzliche Krankenkasse zu wählen, die die begehrte Leistung als Vorleistung erbringt. Unter Umständen muss er dann aber damit rechnen, dass von ihm die Erstattung der Kosten verlangt wird, und zwar gemäß § 92 Abs. 2 Satz 5 SGB V und mit der Begründung, dass er sich grob fahrlässig nicht ausreichend versichert habe. Etwas anderes kann im Ergebnis nicht gelten, wenn der Betreffende nicht Sozialhilfempfänger ist: Man wird ihn darauf verweisen, dass er ohne Weiteres bei seiner privaten Krankenversicherung den (GKV-konformen) Basistarif wählen könne. Das ist zwar teurer, ist aber für das Sozialamt ohne Belang.

Mit freundlichen Grüßen

 

 

Gez. Thomas Drerup

Rechtsreferent